Vor allem aus Comicbüchern jedweder Coleur ist das Phänomen des sogenannten Crossovers bekannt, also das Zusammenführen und Verschmelzen von Charakteren und Hintergründen aus eigentlich voneinander unabhängigen Werken. Und tatsächlich wirkt das Konzept des Bands Schatten über Baker Street – wie der Name schon andeutet im Rahmen der Sherlock Holmes-Reihe beim Bastei Lübbe-Verlag erschienen – auf den Ersten Blick recht abenteuerlich: „Die surreale, makabere Welt des H.P. Lovecraft bricht mit gewaltiger Macht in das rationale, logische Universum des größten Detektivs aller Zeiten“ verkündet der Klappentext vollmundig und schreibt sich damit gewissermaßen die Wiedervereinigung zweier maßgeblich von E.A. Poe inspirierter Literaturgenres auf die Fahnen.
Da ich selbst ein bekennender Fan beider Seiten dieser scheinbar ungleichen Hochzeit bin, habe ich mich natürlich mit großen Hoffnungen aber durchaus auch skeptischen Fragen an die Lektüre dieser Anthologie gemacht, in der sich zwanzig Genreautoren mit achtzehn chronologisch geordneten Kurzgeschichten an der Aufgabe versucht haben, rationale Detektivgeschichte und kosmischen Schrecken zu verschmelzen. Mit teilweise sehr unterschiedlichen Ergebnissen.
Ein Pluspunkt vorweg: Die kurze Einleitung, verfasst von Michael Reaves und John Pelan, den Herausgebern dieser Geschichtensammlung, ist endlich einmal lesenswert und führt den Leser sehr gut in die Problemstellung ein, der sich die Autoren auf den gut fünfhundert nachfolgenden Seiten gewidmet haben und liefert mir als Rezensenten gleichzeitig dankenswerterweise eine klare Richtlinie, um die Geschichten und den Band zu bewerten: Wie glaubwürdig werden die Protagonisten, allen voran Sherlock Holmes, auf den Cthulhu-Mythos reagieren und wie innovativ und durchdacht glückt die Symbiose von Doyles und Lovecrafts Welten?
Es folgt nun jeweils eine kleine Besprechung der einzelnen Storys. Wer stattdessen lieber ein rasches Fazit lesen möchte, der findet dies – wie zu erwarten – ganz am Schluss.
Den Anfang macht Eine Studie in Smaragdgrün von Neil Gaiman, dem wohl größten Namen unter den vertretenen Autoren. Und er macht ihm alle Ehre: Es beginnt mehr oder weniger wie ein gewöhnlicher Fall für die beiden Protagonisten, als Scotland Yard den einzigen beratenden Detektiv Londons um Mithilfe in einem Mordfall ersucht. Dann jedoch gelingt es Gaiman, dem Leser mit beeindruckender Selbstverständlichkeit den Boden unter den Füßen wegzuziehen und ihn für den Rest der Geschichte mit kleinen und großen Blicken hinter den Vorhang der heilen Welt im freien Fall zu halten. Und tatsächlich ist nichts so, wie man es aus Gewohnheit erwartet.
Eine Studie in Smaragdgrün ist im Grunde eine klassische Sherlock Holmes-Geschichte, nur dass Lovecrafts Mythos die Spielregeln grundlegend geändert hat und man nach dem Eintauchen in das sehr kreativ zu Ende gedachte Setting fasziniert und verstört zugleich zurückgelassen wird. Ohne zu viel verraten zu wollen: Wirklich ein inspirierender Einstieg nach Maß und deutlich die beste Geschichte des Bandes.
Gegen dieses kleine Meisterstück hat es Elizabeth Bear mit Tiger! Tiger! nicht leicht, doch glücklicherweise schafft sie eine gänzlich andere Umgebung und kommt sogar ganz ohne die Helden aus der Baker Street aus. Stattdessen folgen wir in dieser Kurzgeschichte, deutlich von Rudyard Kipling inspiriert, einer bunt gemischten Jagdgesellschaft in den indischen Dschungel, wo ein menschenfressender Tiger sein Unwesen treiben soll. Doch schon bald müssen die Besucher aus dem Westen erkennen, dass fernab der Zivilisation noch ganz andere Mächte am Werk sind.
Hier treffen zwei bekannte Holmes-Gegenspieler in einer internationaler Intrige aufeinander, die sich um äußerst fremdartige Dinge dreht. Eine solide und stimmungsvolle Expeditionsgeschichte mit Kolonialfeeling, die jedoch auch gut ohne den eingebrachten Mythosbezug ausgekommen wäre.
Nicht zurück in die Baker Street 221b sondern nach New York führt dann Steve Perrys Der Flammendolch. Dort sucht eine exotische Fremde den gastierenden Sherlock Holmes auf und es entbrennt ein geistiges Kräftemessen, denn die Waffe, die der Detektiv seiner bemerkenswerten Klientin beschaffen ist nicht für einen normalen Kampf gedacht.
Dem martialischen Titel zum Trotz eine relativ ruhige Geschichte die im Grunde nur das Gespräch umfasst und eine nette Charakterstudie ist. Für Rollenspieler jedoch eventuell von größerem Interesse, da Perry eine gute Anregung liefert um die Figur des Sherlock Holmes unaufdringlich und gewinnbringend ins Spiel einzubeziehen.
Dass der Meister der Deduktion jedoch auch vor eigenen Reisen nicht zurückschreckt beweist Ein Fall von königlichem Blut, in welchem Steven-Elliot Altman den bekannten Ermittler an den niederländischen Königshof schickt, begleitet allerdings nicht von Dr. Watson sondern dem Erzähler, einem gewissen H.G. Wells. Und dies aus gutem Grund, denn tatsächlich soll ein Poltergeist den ruchlosen Anschlag auf die Prinzessin verübt haben! Tatsächlich geht irgendetwas seltsames im Schloss um, zumal die einzigen Personen mit Motiv schon lange verstorben sind.
Was beginnt wie eine klassische Gothic-Horrorstory offenbart bald durch seltsame Träume und den Fund verbotener Bücher die wahren Hintergründe des durchaus interessanten Falles mit einigen sehr gelungenen Wendungen. Leider zeichnet Altmann jedoch Holmes‘ eigene Position zum Rationalität/Mythos-Dilemma nur sehr schwach und umgeht somit die größte Herausforderung.
Anschließend bekommen wir dank James Lowders Die weinenden Masken einen Einblick, was Dr. Watson in seinem oft bemühten Militärdienst in Afghanistan erlebt hat und was wohl so schrecklich war, dass er es seinem engsten Freund über all die Jahre verschwiegen hat. Denn die Hölle des Schlachtfelds ist nur die Hälfte der Geschichte, dem wahre Grauen begegnet Watson in einem abgelegenen Dorf, wo maskierte Priester stumme Tränen über die Sterbenden vergießen. Als dann auch noch Watsons einziger verbliebener Kamerad verschwindet, beschließt dieser, der schweigenden Kaste auf den Grund zu gehen.
In Watsons Vergangenheit findet Lowder eine passende Umgebung für eine in eindrucksvollen Bildern geschilderte Geschichte und beleuchtet die Auswirkungen des kosmischen Schreckens in der lovecraftscher Tradition, wo sowohl Glaube als auch Rationalität versagen. Eindeutig einer der besten Beiträge zu diesem Band.
Wer Kunst im Blut hat muss sich nicht unbedingt glücklich schätzen, wie Brian Stableford durch die Erzählungen Sherlock Holmes‘ schildert. Dieser sucht nämlich seinen Bruder Mycroft auf, da der Meisterdetektiv tatsächlich mit seinem Latein am Ende, ja regelrecht verzweifelt ist. Tatsächlich ist die seltsame körperliche Veränderung die seinen Klienten befallen hat höchst merkwürdig. Der Seemann selbst sogar behauptet, es würde ein Fluch auf der nur grob menschenähnlichen Statuette lasten, welche er von seinem sterbenden Kapitän erhalten hat.
Lovecraft-Kenner werden den Braten respektive den Fisch wohl schon jetzt gerochen haben und liegen damit sogar nahezu richtig, was die ansonsten recht tiefgründige Story natürlich ihrem Reiz berauben kann. Doch zumindest weiß Stableford noch eine recht pulpige Erklärung unterzubringen, warum die Gebrüder Holmes beide vor Genialität strotzen (man beachte den Titel), auch wenn diese eher Geschmackssache sein dürfte.
Das Fastende Mädchen von Poppy Z. Brite und David Fergusson lässt Holmes und Watson endlich wieder gemeinsam auf Ermittlung gehen – und die zu untersuchenden Ereignisse sind in der Tat mysteriös: Eine junge Frau, die seit drei Jahren weder gegessen noch getrunken hat und dennoch am Leben ist. Seit sie damals in Griechenland in einem abgelegenen See schwimmen war nimmt sie nichts mehr zu sich, leidet an Gedächtnisschwund und interessiert sich zudem für obskure arabische Literatur. Holmes nimmt die Herausforderung mit erstaunlichem Eifer an.
In dieser recht einfachen Geschichte fällt es leider noch leichter, den Mythos-Hintergrund zu erraten als in der vorangegangenen, dafür wird dem Leser eine interessante Charakterisierung des großen Detektivs präsentiert. Denn da Lovecrafts Kreaturen niemals übernatürlich waren, leuchtet es ein, dass sich Sherlock Holmes durchaus auch ohne Sinnkrise in kosmische Geheimnisse stürzt.
Je älter eine Familie ist, desto eher sollte man sich von ihr fernhalten, wenn man Lovecraft glauben mag. Und Die Nichte des Altertumsforschers stammt aus einer sehr alten Familie! Natürlich lässt sich der ehrgeizige Detektiv dennoch nicht davon abhalten, sich einmal näher mit ihren düsteren Anverwandten in der übel beleumdeten Abtei auseinanderzusetzen. Gut dass Holmes mit einem gewissen Mr.Carnaki einen fähigen Gaststar mit Rat und Tat zur Seite stehen hat. Weniger Glück hat dagegen Dr. Watson, der bald in eine äußerst körperliche Außeinandersetzung mit dem alten Hausherren gerät.
Barbara Hamblys Bemühungen, den Stil der großen Vorbilder nachzuempfinden, sorgen für eine vertraute Atmosphäre und sollen an dieser Stelle lobend erwähnt werden. Leider greift auch diese Geschichte, ebenso wie die beiden vorherigen, ein doch recht bekanntes Thema auf, aber zumindest erweitert sie es engagiert, so dass sich auch Lovecraft-Leser noch bereichert fühlen können. Besser als der Durschnitt.
Wem das Ende von Die Nichte des Altertumsforschers zu pulpig war, der sollte vor John Pelans Das Geheimnis des Wurms vielleicht gut durchatmen. Schließlich sind die Geschichten von Unsterblichkeit und Äthernauten, die der rätselhafte Dr. Nikola zusammen mit drei noch rätselhafteren Gegenständen – darunter der namensgebende Wurm im Glas – in die Baker Street 221b bringt nicht gerade kleinkalibrig. Der mechanische ‚Uhrwerkmann‘, Gehilfe des riskanten Experiments, tut sein übriges.
Von Arthur Conan Doyle ist hier kaum etwas zu spüren, Holmes und Watson verkommen zu Platzhaltern und sind nur durch die obligatorische Deduktionsdemonstration als solche zu erkennen. Stattdessen präsentiert sich dem Leser ein klassischer aber unspäktakulärer Thriller zwar im Stil Lovecrafts aber leider ohne größere Überraschungen.
Es existiert eine beachtliche Anzahl von Spielfilmen mit dem britischen Meisterdetektiv und bei der Lektüre des Beitrags von Paul Finch hat man beinahe das Gefühl, Sherlock Holmes und Das Rätsel des Gehenkten im Fernsehen zu verfolgen. Unzählige Menschen werden sterben, sofern es den beiden Helden nicht gelingt, die Aufgabe des zum Tode verurteilten zu lösen. Völlig ohne störende Werbeunterbrechungen spitzen sich die Ereignisse zu, während Holmes und Watson durch die Londoner Unterwelt eilen um ganz London vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren.
Mit Das Rätsel des Gehenkten schafft Finch eine und abwechslungsreiche Symbiose zwischen Detektivfilm und Lovecraft-Horror, wobei es ihm gelingt, die Fallstricke der bloßen Imitation gekonnt zu umgehen. Rasches Tempo und bildliche Beschreibungen erzeugen immer wieder eine sehr unterhaltsame cineastische Stimmung und heben diese Geschichte positiv hervor.
Im Anschluss daran muss Dr. Watson feststellen: Das Grauen hat viele Gesichter. Und eines davon scheint tatsächlich seinem engsten Freund zu gehören! Eine bestialische Mordserie versetzt London in Angst und Schrecken und Watson muss mitansehen, wie Sherlock Holmes selbst sich als der Mörder entpuppt. Verraten und Verzweifelt hadert der Arzt mit dem Erlebten, während die Polizei mit jedem Verbrechen mehr im Dunkeln tappt.
Tim Lebbon eröffnet seine Erzählung mit einem Paukenschlag, der Großes hoffen lässt. Doch viel zu schnell entzaubert er seine Geschichte selbst und lässt den Leser bereits nach wenigen Seiten den klischehaften Hintergrund erraten. Was dann noch bleibt ist ein Diskurs über Wahrnehmung, Freundschaft und Vertrauen, aber die Luft ist zu früh raus. Einzig die düstere Reaktion des rationalen Sherlock Holmes auf den unfassbaren Schrecken ist noch lesenswert. Vertane Chance.
Eine alte Freundin aus Watsons Zeit in Afghanistan sucht anschließend überraschend das britische Ermittlerduo auf. Doch alte Liebe scheint durchaus zu rosten: Die angereiste Dame interessiert sich mehr für Das Manuskript des Arabers als für ihren ehemaligen Geliebten. Als gelehrter Mann kann Sherlock Holmes den Berichten der Afghanin Düsteres entnehmen und zu dritt macht man sich an die Wiederbeschaffung des gefährlichsten Buches aller Zeiten.
Von Michael Reaves selbst verfasst, eröffnet dieser Beitrag interessante Einblicke in die Gefühlswelt des ewigen zweiten Mannes Watson und erhebt ihn deutlich zur Hauptfigur. Leider ist der Handlungsablauf sehr gradlinig und wirkt hier und da leicht konstruiert. Wenn auch nichts herausragendes, so ist Das Manuskript des Arabers doch zumindest eine grundsolide Story, bezeichnent für die gesamte Anthologie.
Dass manche Berufsgruppen riskanter sind als andere ist gemeinhin bekannt. Der ertrunkene Geologe von Caitlín R. Kiernan wirft allerdings doch so manche Fragen auf. Und überhaupt ist der Brief aus Whitby an Dr. Watson voller merkwürdiger Berichte: Der Kollege des rätselhaft verstorbenen Wissenschaftlers schreibt von einem verstörend bekannten Fremden und unmöglichen Einschlüssen in uralten Gesteinsschichten. Und was hat es mit dem vor der alten Hafenstadt gestrandeten Geisterschiff Demeter auf sich?
Der stilistische Kniff mit dem kontextlosen Brief ist eher Lovecraft als Doyle und auch Holmes und Watson sucht man hier vergebens. Dafür offenbart sich ein hübsches Sammelsurium an Anspielungen, Querbezügen und Möglichkeiten die zum Spekulieren anregen. Leider passiert aber auch nicht wesentlich mehr und echte Spannung will nicht recht aufkommen. Schlußendlich Geschmackssache.
Ein Fall von Schlaflosigkeit plagt anschließend Sherlock Holmes in John P. Vourlis‘ gleichnamiger Geschichte und er ist nicht der Einzige: Ein ganzes Städtchen in Nordengland leidet unter der gleichen Unannehmlichkeit! Nicht dass dies als Grund des raschen Aufbruchs Holmes dorthin wäre, er folgt lediglich den Lieferungen von Schlafdrogen, die in London nicht mehr zu bekommen sind. Doch in der Provinz angekommen berichten die Dörfler gar von einem grässlichen Untier!
Was beginnt wie ein mustergültiger Auftakt zu einem viktorianischen Roadmovie bleibt wesentlich zahmer als man vom unterhaltsamen Anfang erwarten könnte. Erneut erwartet den Leser ein netter aber durchschnittlicher Beitrag, dem jedoch zumindest eine gute Mischung der beiden Genres gelingt. Spätestens die unbefriedigende Bearbeitung des Rationalität/Mythos-Dilemma verhindert jedoch ein positives Hervorstechen der Story.
Wer bisher den klassischen bösen „Kult der Woche“ vermisst hat, wird in Richard A. Lupoffs Das Voorische Zeichen nicht enttäuscht werden. Eine echte Lady sucht die Baker Street 221b auf, da um Hilfe bei der Suche nach ihren Anverwandten zu erbitten. Holmes erfährt von der Klientin Verstörendes bezüglich eigenartiger Umbaumaßnahmen und der frischvermählten Gattin des vermissten Bruders – diese osteuropäische Adelige gehört nämlich keinesfalls der orthodoxen Kirche an…
Wer sein Herrenhaus (wortwörtlich!) aus Kohle erbaut, kann davon ausgehen, dass es beim obligatorischen Showdown in Flammen aufgehen wird. Nachdem diese Merkwürdigkeit aus dem Weg ist bleibt die Erkenntnis, dass man eine weitere geradlinige Geschichte ohne größere Inspiration hinter sich gebracht hat. Fairerweise will ich nicht ausschließen, dass die Abnutzungserscheinungen nach mehreren ähnlichen Storys den Eindruck getrübt haben könnten.
Das Buch neigt sich bereits dem Ende zu, da weckt Entscheidung auf Exham Priory vielversprechende Erinnerungen an Lovercrafts Ratten im Gemäuer und lässt auf eine inspirierende Geschichte hoffen. Ein eigentümlicher Klient bringt ein Artfakt mit sich, welches Holmes nötigt, von seinen Erlebnissen mit dem „Grauen von Reichenbach“ zu berichten. Und nicht zufällig führt der Weg dann ins abgelegene Cornwall und hinab in die Krypta der Priorerei, wo es zu einem Zusammentreffen mit alten und uralten Feinden kommt.
Beinahe stolpert Autor F. Gwynplaine MacIntyre direkt zu Anfang über altbekannte fischige Elemente und die Hoffnung auf Innovation schwindet. Kreativ und mit spürbarem Vergnügen gelingt es MacIntyre dann jedoch, von einer bloßen Weiterführung der Lovecraft-Storys abzusehen und eigene Wege zu beschreiten, wobei er britisches und kosmisches auf spannende Art zu verbinden weiß. Ein Lichtblick und qualitativ im oberen Drittel.
Für keinen Arzt ist es gut, jemanden zu Unrecht für tot erklärt zu haben. Doch wie sonst soll es sich Dr. Watson in Der Tod stand ihm nicht gut von David Niall Winson und Patricia Lee Macomber erklären, dass plötzlich der eigentlich Verstorbene wieder samt Anwalt und Verwandtschaft vor seiner Tür steht? Erschüttert wendet sich der Doktor an seinen Freund Holmes und gemeinsam beginnt die Jagd nach alten Geheimnissen und einem wandelnden Toten.
Diese Story kann sich, trotz der leider recht offensichtlichen Vorkommnisse, ihre Mysteriösität für eine Weile bewahren, jedoch nur aus dem Grund, dass nicht Herbert West sondern ein kabbalistischer Rabbi hinter dem Spuk steckt. Man könnte dies strenggenommen als absolut Lovecraftfremd werten, womit diese Geschichte eigentlich komplett am Thema von Schatten über Baker Street vorbeigeschrieben wäre. Abgesehen davon finden sich, wenn man einmal auf den Lehmtrichter gekommen ist, kaum noch Überraschungen.
Als letzter Beitrag folgt Simon Clarks Albtraum auf Wachs in dem auch das Zeitalter des Gaslichts mit dem hereinbrechenden Weltkrieg sein Ende findet. Watson ist allein, als er von drei hochrangigen Regierungsvertretern aus dem Schlaf gerissen wird. Im Wohnzimmer des Doktors bauen die Besucher einen modernen Phonographen mit Wachszylindern auf und lassen Dr. Watson – und den Leser natürlich ebenso – Zeuge von dramatischen Ereignissen werden und werfen ein neues Licht auf die Duelle zwischen Sherlock Holmes und seinem größten Erzfeind.
Nahezu komplett im im hörspielähnlichen Stil der Aufnahmen gehalten, gelingt es Clark ein fesselndes Erlebniss zu schaffen, indem er dem Leser nie ein fertiges Bild vorsetzt, sondern dessen Phantasie für seine Zwecke nutzt. So deutet er vieles nur an, lässt andere Personen berichten und umschreiben was sie sehen. Dass der Autor diese „erzählerische Milchglasscheibe“ zu einem positiven Effekt einsetzen kann, zeichnet ihn aus und beschert Schatten über Baker Street einen erfrischend fantastischen und gebührenden Abschluss.
Auf den letzten neun Seiten werden zu guter Letzt noch die Autoren in jeweils ein paar Zeilen vorgestellt. Einiges Wissenswertes über andere Projekte oder Anekdoten bezüglich der Ersterfahrungen mit dem Genre sind dort zu finden, ebenso wie die kleine obligatorische Eigenwerbung oder humoristische Kommentare.
Aber nun zum langersehnten Fazit: Die besprochene Anthologie hat das sich Ziel gesetzt, eine Symbiose zwischen Arthur Conan Doyles legendären Sherlock Holmes-Geschichten und Howard Phillips Lovecrafts Cthulhu-Mythos zu schaffen. Und um es kurz zu machen: Es ist gelungen.
Elemente beider Meister wurden in unterhaltsamen Kurzgeschichten vereint und die Lektüre von Schatten über Baker Street hinterlässt das befriedigende Gefühl zweier zusammenpassender Puzzleteile. Allzu hohe Erwartungen werden wohl allerdings dennoch nicht erfüllt werden, da nur eine gute Handvoll von Autoren wirklich innovative und hervorragende Beiträge abgeliefert haben. Auf der anderen Seite ist das Gros der Storys grundsolide und keineswegs schlecht; der mehr als faire Preis von 8€ für das Taschenbuch stimmt zusätzlich milde.
Das einzige wirkliche Problem des Bands könnte im Zielpublikum liegen. Eingefleischt Holmes-Anhänger werden über die teilweise fragwürdigen Reaktionen des Meisterdetektivs möglicherweise die Nase rümpfen, ebenso wie fachkundige Lovecraft-Jünger angesichts des hier und da doch recht fadenscheinig eingebrachten Mythosbezugs. Ein Fan beider Genres dagegen kann eigentlich bedenkenlos zugreifen – und sollte dieser Jemand schließlich auch noch die Absicht hegen, die viktorianische Welt des Sherlock Holmes in seine Cthulhu-Rollenspielrunde miteinzubringen, wird Schatten über Baker Street zu einem Pflichtkauf. Zu reichhaltig eröffnen sich dem aufmerksamen Spiel(leit)er Anregungen, kreative Ansätze und Adaptionsideen für seine ganz eigenen Pläne rund um den kosmischen Schrecken im Schein der Gaslaternen.
Stefan Droste